Ich glaube es steht uns allen miteinander gut an, wenn wir den Verfolgten und Gegnern des SED-Regimes mehr Anerkennung und mehr Hilfe geben. Auch diese Gerechtigkeit gehört für mich zu den demokratischen Werten, für die die Menschen in der DDR auf die Straße gegangen sind.

Bundespräsident Horst Köhler am 3. 10. 2004 in Erfurt
 
Die Loyalität zum Staat derer, deren Gewissen es gebot Widerstand zu leisten, ist dann überzogen, wenn man sie nicht angemessen entschädigt, Täter nicht bestraft und Mitläufer belohnt (Ministergesetz).
 
Wolfgang Welsch am 3. 10. 2009 in Berlin
 
 
Die „DDR“ war ein Unrechtsstaat
 
Vor 20 Jahren scheiterten die kommunistischen Diktaturen in Europa und Deutschland endgültig. Für die Deutschen mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989.
Die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 beendete für unser Land einen historischen Ausnahmezustand. Niemand hat auf diese Anomalität viele Jahre vor 1989 deutlicher und klarer hingewiesen, als die, die sich dem System widerständig verweigerten oder durch Flucht entzogen.
Nach 20 Jahren wiederholt sich nun die Diskussion darüber, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Dieser kontroverse Streit hat etwas Zwanghaftes an sich, weil er um die angebliche ´Ehre´ eines Teils der Ostdeutschen geht, die im Unrechtsregime sozialisiert waren, sich arrangierten und dort ihre Heimat sahen. Die Jugenderinnerungen und berufliche Karrieren mithin als ein ´richtiges Leben´ betrachteten und dabei nicht erkannten oder wahrhaben wollten, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Eine positive Erinnerung daran ist eine emotionale Rückerinnerung, beispielsweise an die Jugend, in der man menschliche Entwicklungen losgelöst vom politischen Umfeld sehen mag.
Zweifellos ist das Unrecht ein Wesensmerkmal des SED-Regimes gewesen, das dessen Herrschaftspraxis bestimmte. Die allermeisten Menschen in der DDR erlebten die Brutalität eines als „Arbeiter- und Bauernstaat“ bezeichneten Regimes, das auf außenpolitische Entspannung mit der Verschärfung der Repression nach innen reagierte.
Bei dem Begriff „Unrechtsstaat“ handelt es sich um eine politische Wortschöpfung für die Bezeichnung eines Staates, der kein Rechtsstaat ist. In der wissenschaftlich-staatsrechtlichen Diskussion werden die Begriffe „Unrechtsstaat“ und „Unrechtssystem“, insbesondere in Bezug auf die DDR, ebenso oft gebraucht, wie in der Rechtsprechung deutscher Gerichte, in der sowohl der NS- als auch der SED-Staat als Unrechtsstaaten bezeichnet werden.
So erklärte auch der frühere Richter am Bundesverfassungsgericht und spätere Bundespräsident Roman Herzog am 26. März 1996 vor der Enquête-Kommission ´Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit über die DDR´: „Sie war ein Unrechtsstaat.“
Obwohl ein gewisser Prozentsatz ehemaliger DDR-Bürger, vor allem aber die in der Partei „Die Linke“ versammelte Rest-SED und deren Apologeten, den Begriff „Unrechtsstaat“ und dessen Implikationen für sich als ´unehrenhaft´ ablehnen, können sie nicht leugnen, in einer Diktatur gelebt zu haben. Bezeichnete sich doch der von Beginn an illegitime Staat „DDR“ selbst als „Diktatur des Proletariats“. Eine Diktatur ist jedoch zweifelsfrei die unbeschränkte Herrschaft einer Person oder Gruppe durch autoritären Zwang über die Mehrheit. Dies kann nur durch Gewalt und Repression auf Andersdenkende geschehen, also durch die Außerkraftsetzung von Recht und Menschenrecht. Wo dieses Recht vor Macht fehlt, herrscht Unrecht. Die DDR war also zweifelsfrei ein Unrechtsstaat.
Wer dies im Namen der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus als sophistische Begriffsverwirrung ablehnt, verharmlost die Willkür des SED-Staates. Denen, die dies als Kampfbegriff bezeichnen, muss man Verklärung der Diktatur vorwerfen. Ihnen geht es in Wahrheit nicht um die Klarheit des Denkens und die historische Definition dessen, was den SED-Staat ausmachte und in seinen Grundfesten zusammenhielt, sondern einzig um die politische Semantik der Begriffe. Geradezu abenteuerlich mutet der Hinweis darauf an, dass es - genau wie in der DDR - auch in der Bundesrepublik Unrecht gäbe. Da werden Staat und Gesellschaft verwechselt.
Zudem wird mit diesem Argument bestritten, dass der SED-Staat in Theorie und Praxis, ein Unrechtsstaat gewesen ist. In Rechtsstaaten gibt es freie und geheime Wahlen deren Ergebnis respektiert wird. Schon die ersten Wahlen in der DDR waren gefälscht, getreu nach Ulbrichts Devise: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Deshalb war der SED-Staat schon von Beginn an delegitimiert und ein Unrechtsstaat, weil seine Regierung von den Bürgern nicht gewählt worden war. In Rechtsstaaten schießt man Männern, Frauen und Kindern auch nicht in den Rücken, nur weil sie das Land verlassen wollen! Im SED-Staat tat man dies, tausendfach! In Rechtsstaaten foltert man Andersdenkende nicht. Im SED-Staat tat man das, hunderttausendfach! Wahr ist: Unrecht gab und gibt es auch in Rechtsstaaten. Menschen können fehlerhaft handeln. Aber in Rechtsstaaten werden sie dafür zur Verantwortung gezogen. Der SED-Staat hingegen kannte weder Meinungsfreiheit noch Freizügigkeit, weder politischen Pluralismus noch Gewaltenteilung und schon gar keine unabhängige Rechtsprechung. Er war auf die Verweigerung elementarster Bürgerrechte gegründet. Deshalb war er ein Unrechtsstaat, der nur als Diktatur und durch sich ständig reproduzierendes neues Unrecht existieren konnte.
Die Diktatur war nicht nur schlecht, sie war menschenverachtend und entwürdigend. Diejenigen, die das SED-Regime mitgetragen haben, bewusst oder unbewusst, basteln noch immer an ihren Rechtfertigungsversuchen, die in ihrer banalen Ignoranz an den bekannten Satz erinnern: „Aber die Autobahnen wurden gebaut.“ Die Ostdeutschen können auch nicht stolz darauf sein, was sie unter den Bedingungen der Diktatur geleistet haben. Sicher, auch sie waren nicht besser oder schlechter als die Westdeutschen. Das Privatleben der Menschen auf beiden Seiten der Grenze umfasste Freude und Leid, Hoffnung und Enttäuschungen, Erfolge und Misserfolge. Sie hatten Familien und soziales Umfeld, ein Zuhause, das ihre Heimat war. So weit, so gut. Die Rahmenbedingungen beider Staaten unterschieden sich aber dramatisch in politische Pluralität und wirtschaftliche Chancen auf der einen Seite und sozialistische Uniformität und zentral verwaltete Mangelwirtschaft auf der anderen. Kann man unter den vorgenannten Rahmenbedingungen stolz auf eine Lebensleistung sein? Waren die Zwangsarbeiter der sowjetischen GULags beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn etwa stolz auf ihre Lebensleistung? Mag dieses Beispiel auch pointiert sein, so macht es die politische Indoktrination eines Feindbildes vom Klassenfeind und vom „unversöhnlichen Hass“ auf denselben deutlich, ausstrahlend in alle Lebensbereiche. Die Verklärer und Schönredner versuchen, die Menschen, die in der DDR gelebt haben, nachträglich als Geisel zu nehmen: Es wird so getan, als ob die Kritik am SED-Staat Kritik an den Menschen sei. Das ist eine infame Strategie.
Wer die unmenschliche und willkürliche Grenze mitten durch Deutschland mit der Lüge vom „antifaschistischen Schutzwall“ für „legitim“ hält und das Freiheitsstreben von Menschen in der Fluchtbewegung mit „materiellen Anreizen“ erklärt, spricht die Sprache von Sklavenhaltern die glauben, durch Investition in die Ausbildung von Sklaven das Recht zu besitzen, sie am weglaufen zu hindern. Diese Art von Dienstpflicht für den Sozialismus drückte sich in dem Begriff „Republikflucht“ aus, der offensichtlich in Analogie zur Fahnenflucht konstruiert wurde.
Kann man von der medizinischen Versorgung der DDR schwärmen, von den Kinderkrippen, das kostenlose Gesundheitssystem bejubeln, in dem Zähne ohne Betäubung gebohrt wurden und künstliche Nieren für kaum ein Zehntel der Patienten reichten? Dass für die Herrschenden spezielle Krankenhäuser und Medikamente aus dem Westen bereit standen, von denen die Bevölkerung nur träumen konnte, fällt heute ebenso unter den Tisch, wie die Sonderversorgungssysteme für die Systemstützen. Die wollten sich die von ihnen erzeugte Mangelwirtschaft nicht zumuten. Dass es keine Arbeitslosigkeit gab, beruhte auf dem Gehorsam der Angepassten. Es gab Hunderttausende Menschen, die sich als Hilfspfleger oder Friedhofsgärtner durchschlagen mussten, weil sie mit dem System in Konflikt kamen, einen Ausreiseantrag gestellt hatten, dem Regime kritisch oder gar widerständig gegenüberstanden. Trotzdem preisen DDR-Nostalgiker die angebliche Arbeitsplatzsicherheit als Vorzug gegenüber der kalten Marktwirtschaft.
Was als schleichende Trendwende in der Forschung weg von der Diktatur hin zum Alltag begann, beherrscht inzwischen weite Teile der historischen Wissenschaft. Das aus der DDR-Akademie der Wissenschaften hervorgegangene Potsdamer Zentrum für zeithistorische Forschungen, wo man die DDR gerne als „Konsensdiktatur“ bezeichnet, wird zunehmend zum Leitinstitut, während der diktaturkritische „Forschungsverbund SED-Staat“ an der FU Berlin gegen seine Abwicklung kämpft. Die wissenschaftlichen Gremien der Aufarbeitung werden von „Aufarbeitern“ dominiert, die den SED-Staat nicht nur auf ihre Diktatur-Geschichte reduzieren wollen. Dass es eine „nicht nur Diktatur“ ebenso wenig gibt, wie eine „nur ein bisschen Schwangerschaft“, stört diese Wissenschaftler nicht.
Von diesen Gleichschaltungsbemühungen ist nicht nur die Forschung betroffen. Längst sind auch Gedenkstätten in den Blick der Leugner geraten. Hier, wo sich jährlich Hunderttausende über die DDR-Vergangenheit informieren, soll vermittelt werden, dass die DDR im Grunde halb so schlimm war. Zu diesem Zweck setzte die rot-grüne Bundesregierung eine Kommission ein, die Vorschläge für einen Geschichtsverbund SED-Diktatur machen sollte. Die Experten erklärten, die Zeit sei reif für einen Akzentwechsel und eine Perspektivendifferenzierung. Statt staatlicher Repression, wollten sie in einem neuen Museum den Alltag in der DDR behandelt wissen, der in den Gedenkstätten zu kurz käme. Zwar verschwanden die Vorschläge in der Schublade. Doch der Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte ist damit keineswegs abgeblasen.
Schritt für Schritt hat sich auch die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ von ihrem gesetzlichen Auftrag entfernt. Vorläufig ist der strategische Wandel nur an Kleinigkeiten erkennbar. So hat die Stiftung anlässlich des bevorstehenden 20. Jahrestages des Mauerfalls ein Stipendienprogramm „Aufbruch 89“ ins Leben gerufen, an dem sie die „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ beteiligt. Gerade diese Stiftung verklärt den SED-Staat in unerträglicher Weise. In ihren Veranstaltungen und Publikationen bietet sie hochrangigen Ex-MfS-Offizieren regelmäßig ein willkommenes Podium. Was das Verklären eigenen Versagens und die Vorzüge der Diktatur betrifft, so ist die Lüge mittlerweile zum Normalfall von Kommunikation geworden. Eine Gesellschaft, die die Lüge akzeptiert, eine Stiftung, die sie mit Unsummen fördert, ist nicht besser als die Unterhaltungsindustrie.
Frühzeitig hat sich die Linkspartei mit der Zauberformel „Antistalinismus“ aus der Verantwortung für ihre Vergangenheit als beherrschende Partei der Diktatur gezogen. Die Schuld an den begangenen Verbrechen schob sie kurzerhand Stalin zu, während die Absichten der vielen Parteifunktionäre moralisch angeblich gut waren. Sogar von unschuldigen Opfern ist zuweilen die Rede. Allerdings handelt es sich dabei nur um „sozialistische“, während die „widerständigen“ des Gedenkens nicht für würdig befunden werden. Auch vom SED-Politbüro distanziert man sich schon mal, weil es die Demokratie in der Partei außer Kraft gesetzt hätte. Die Komintern lässt grüßen. Doch es bleibt dabei, dass die DDR der Versuch war, eine „gerechtere“ Gesellschaft zu verwirklichen. Als hätte die SED-Führung nie befohlen, die Demonstrationen in Dresden niederzuknüppeln und in Erwägung gezogen, dieselben in Leipzig und Berlin zusammenzukartätschen.
Noch einmal: Die „DDR“ war ein Unrechtsstaat, eine Diktatur. Wem das zu platt erscheint, der möge nachträglich einen Blick in die Verfassung des SED-Staates werfen: Die DDR-Verfassung definierte den Staat in ihrem ersten Artikel unmissverständlich als das „Herrschaftsinstrument der Arbeiterklasse“ und formulierte als Staatsziel den Sozialismus: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Damit war klar, dass für Andersdenkende kein Platz war. Wer Grund- und Menschenrechte einforderte, verstieß in der Logik des Systems gegen die staatliche Ordnung und musste bestraft werden. Die DDR hatte zwar die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen unterschrieben, hielt die damit verbundenen Verpflichtungen jedoch zu keinem Zeitpunkt ein. Kein Lebensbereich war vor der Bespitzelung und Überwachung durch die Stasi sicher. Bei den Abertausenden inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi hatte und hat das staatlich verordnete Feindbild verheerend in die persönlichen Beziehungen gewirkt und zu Vertrauensbruch und Verrat geführt.
Der in Gesetze gegossene Staatsterrorismus der DDR wurde durch das Ministerium für Staatssicherheit in grausamer und brutaler Weise mit Leben erfüllt. Die Stasi trat in das Erbe der Gestapo ein und übernahm nicht nur die Zuchthäuser von den Nationalsozialisten, sondern oft auch deren Methoden. Die marxistische Ideologie des Hasses auf Andersdenkende produzierte in vierzig Jahren SED-Staat über 200 000 politische Häftlinge, die unter unmenschlichen Bedingungen in Zuchthäusern und geheimen Haftanstalten des SED-Staates schwere seelische und körperliche Schäden davontrugen. Sie leiden bis heute unter den Folgen posttraumatischer Belastungsstörungen. Ihre Richter, Staatsanwälte, Gefängniswärter, Stasi-Vernehmer, und nicht zuletzt die offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi sind dagegen zumeist davongekommen. Wie das Unrecht vom Rechtsstaat sanktioniert wurde erkennt man daran, dass es nach 40 Jahren DDR-Unrecht nur 42 Verurteilungen mit einer zu verbüßenden Haftstrafe gab. Die Opfer hat man mit geringen Geldzuwendungen abgefunden, die selbst objektive Beobachter als zynisch charakterisieren. Eine „Ehrenpension“ bekamen dagegen diejenigen, die Akten vernichteten, das politische Strafrecht der DDR verschärften oder als inoffizielle Mitarbeiter der Stasi Menschen bespitzelten und verrieten.
Nicht die „Verhältnisse“ oder ein abstraktes „System“ sind für das Geschehene verantwortlich, sondern jene, die es erdacht, aufgebaut und bis 1989 getragen haben – also die Mitglieder und Funktionäre der SED, die heute in der Linkspartei die alten Parolen vom „Systemwechsel“ ungehindert verbreiten darf. Die verklärende DDR-Darstellung führt dazu, dass die Opfer des SED-Staates als Störer auf dem Weg zur „inneren Wiedervereinigung“ dargestellt werden. Aber nicht die Opfer stören diesen Prozess, sondern diejenigen, die das gescheiterte Regime verteidigen und schön reden.
Die trauernden Hinterbliebenen des Sozialismus, nicht das Volk, sondern die Funktionselite des SED-Staates und Tonangebende unter seinen Intellektuellen, sahen mit dem Sturz der Diktatur vor 20 Jahren ihre schöne Scheinwelt in Kommerz und Konsum untergehen. Als wenn die Wiedervereinigung ein Versailler Diktatfrieden der Sieger über die Besiegten gewesen wäre, von Deutschen über Deutsche. Hier blitzt nichts anderes auf als sozialistisches und semi-sozialistisches Gedankengut, inhaliert durch die vormalige Systemnähe vieler Schriftsteller, Künstler und Intellektueller. Ihre Biografien sind inzwischen anerkannt. Auch wenn es sich um Duckmäuser, Wegseher und Anpasser gehandelt hat, die sich vom Gedanken der Freiheit nicht anstecken ließen und den Mächtigen mit ihren Worten mitunter zwar kritisch, aber dennoch zu Willen waren, immer mit scharfem Blick auf die nächste genehmigte Westreise. Die Intellektuellen des Westens dagegen hatten aus dem Kulturpessimismus des Feuilletons ihre Visionen bezogen und sahen sich nach dem Untergang des SED-Staates getäuscht. Seitdem verharren sie mehr oder weniger sprachlos. Wer die bisherige Entwicklung verstehen und mögliche Chancen für eine Änderung zum Besseren abschätzen will, darf die Eigeninteressen der politischen Akteure nicht übersehen. Denn würden die widerständigen Opfer der Diktatur angemessen entschädigt, wäre dies auch ein politisches Signal: Die Würdigung ihrer Verdienste machte zugleich das Versagen derer in Ost und West deutlich, die in Verkennung der Funktionsweisen einer Diktatur diese reformieren wollten, oder sich ihr aus machtpolitischem Interesse andienten. Beide Gruppen sind in einer neuen politischen Klasse vereint: Es sind die Verklärer der Diktatur.
Müssten sich aus dem zweiten deutschen Desaster nicht tief greifende Veränderungen für die Zukunft ergeben? Müssten nicht die Opfer und Überlebenden von Willkür und Unrecht die Solidarität der ganzen Gesellschaft erhalten? Gibt es einen Ausweg aus dem Vergessen? Können Mahnmale und Erinnerungstage das Vergessen aufhalten? Hält die Unfähigkeit zum Trauern an? Ist Erinnern nicht eher ein Verfremden und grundsätzlich eine enorm emotionale Angelegenheit?
Gewalt hallt als Echo nach. Für die Dabeigewesenen gibt es kein Vergessen. Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. Die allermeisten Menschen würden Widerstand als sinnlos bezeichnen; damals, im NS-Staat, und zuletzt im SED-Staat. Widerstand gegen Unrecht ist aber nie sinnlos. Er ist vielmehr ein leuchtendes Beispiel für die kommenden Generationen. Bestenfalls, lehrt Aeschylos, zeigt die Lektion Wirkung. Die alte Frage bleibt: Wie lange?
Auch 20 Jahre nach dem Untergang des zweiten deutschen Unrechtsstaates bleiben dessen Verbrechen ungesühnt. Das Schweigen zum Unrecht beginnt an den Schulen und hat Tradition in Deutschland. Es ist auch verfehlt zu glauben, die SED-Vergangenheit könnte jemals aufgearbeitet und damit wie eine Akte in die Registratur abgegeben werden. Ich halte es für die selbstverständliche Pflicht der Bundesregierung, die Generalamnestie staatlicher Verbrechen durch Veränderung des Artikels 315 im Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch der Bundesrepublik im Einigungsvertrag aufzuheben, die Untaten des SED-Staates durch Historikerkommissionen aufzuklären und die Täter zu bestrafen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht. Die Beschäftigung mit der Geschichte kann die Gegenwart erhellen. Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, trauert dem Unrechtsstaat „DDR“ ernsthaft nach. Er war eine perfide, menschenverachtende Diktatur.