Der in Budapest lebende Schriftsteller und Übersetzer, Hans-Henning Paetzke, Träger des Offizierskreuz des ungarischen Verdienstordens und des BVK am Bande schrieb zu meinem Buch: 

Wenn der Titel des neuen Buches von Wolfgang Welsch über die Mechanismen des SED-Staates DDR und dessen Aufarbeitung lautet: „Widerstand, eine Abrechnung…“ so ist mir der Inhalt damit nur unzureichend beschrieben. Eher würde ich von einer Monographie, einer wissenschaftlichen Aufarbeitung von Widerstand und Verfolgung, von Verharmlosungsstrategien des untergegangenen Mafiastaats DDR sprechen. Welsch, der wegen seines eigenen Widerstandes fast sieben Jahre Zuchthaus in der DDR verbüßte und nach seinem Freikauf durch die Bundesrepublik zu einem der erfolgreichsten Fluchthelfer avancierte, gegen den drei gerichtlich nachgewiesene Stasi-Mordanschläge verübt wurden, setzt sich mit diesem Buch unter anderem auch mit der Bürgerrechtsbewegung auseinander, deren Bedeutung seiner Meinung nach in der Nach-DDR maßlos überschätzt wird. Überschätzt? Ja, denn die Bürgerrechtler wollten trotz allen Verfolgung die DDR keineswegs abschaffen, sondern lediglich reformieren. Kommunistische Diktaturen aber, so Welsch, lassen sich nicht reformieren, sind jedenfalls noch nie reformiert worden. Alle Versuche sind immer gescheitert.

Die DDR ist nicht durch die Arbeit der Bürgerrechtsbewegung untergegangen, sondern durch die Aktivitäten der Widerständigen zu denen der Autor unter anderen die Fluchthelfer und die Republikflüchtlinge zählt. Und natürlich die zu langen Zuchthausstrafen verurteilten politischen Häftlinge. Die Bundesrepublik habe die DDR u.a. durch Kredite und Freikauf von Gefangenen alimentiert. 1987 habe Alexander Schalck-Golodkowski Franz Josef Strauß gegenüber erklärt, die DDR sei insolvent. Willy Brandts und Egon Bahrs Politik des Wandels durch Annäherung haben die Verbrechen der Machthaber um Erich Honecker und Erich Mielke verschleiert, das Regime salonfähig gemacht und zu dessen internationaler Anerkennung geführt. Viele der Bürgerrechtler seien in ihrer Bedeutung für den Sturz der Diktatur überschätzt. Nach der Wende sind sie zu Ehren, Ansehen und politischen, teilweise hohen Ämtern gelangt und überhöhten ihre oppositionelle Bedeutung in öffentlichen Äußerungen und Büchern.

„Die wissenschaftlichen Gremien der Aufklärung werden von ´Aufarbeitern´ dominiert, die den SED-Staat nicht nur auf ihre Diktatur-Geschichte reduzieren wollen. Dass es eine ´nicht nur Diktatur´ ebenso wenig gibt, wie man nicht nur ´ein bisschen schwanger´sein kann, stört diese Aufarbeiter nicht.“ (S. 318)  Dem letzten Kapitel „Ausblick“ stellt Welsch ein Motto voran: „Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen.“ (Milan Kundera, S. 323)

Für den Autor ist die Erinnerung ein wichtiges Moment im Leben der Menschheit. Auch die Vergleiche von Diktaturen sind für ihn unerlässlich und haben nichts mit Gleichsetzung zu tun. Strukturell seien Nazismus und real existierender Sozialismus der DDR durchaus miteinander vergleichbar, auch wenn die DDR keinen Genozid begangen habe, dafür aber Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Deshalb sind für ihn Opferrenten und –Entschädigungen gemessen an denen der für die Faschismusopfer gezahlten unannehmbar.

Die Stasiverbrecher und mit ihnen die kommunistische Elite hätten wegen des unbefriedigenden Einigungsvertrags und mangelnder juristischer Verfolgung der DDR-Verbrechen keinen Anlass zur Reue für ihre Taten gezeigt und sind im wiedervereinigten Deutschland Ämtern und Ansehen gelangt. Während die Opfer ihres Regimes großenteils in Armut lebten, würden ihre „Schergen“ gesicherte Existenzen haben. Die DDR-Verbrechen sollten unter den Tisch gekehrt werden. Man wolle sich nicht selbst ins Gesicht spucken müssen. Da die DDR kein Unrechtsstaat gewesen sei, sei alles im Rechtsrahmen der DDR und auf Befehl erfolgt. Ein schlechtes Gewissen verböte sich deshalb von selbst. Gerichtsverfahren gegen sie seien das Ergebnis einer Siegerjustiz, eines Landes, das sich die DDR einverleibt habe.

Bei dieser Argumentation werde freilich übersehen, dass nicht die BRD um einen Anschluss an die DDR gebeten habe, sondern umgekehrt bat die letzte, frei gewählte Interimsregierung der DDR unter Lothar de Maiziere, um Anschluss an die BRD. Geschichtsfälschung sei in vollem Gange. Die Erinnerung verblasse, und die Vergangenheit werde schöngeredet. Ganz wichtig sei in diesem Zusammenhang eine umfangreiche Stasiaktenvernichtung unmittelbar nach der Wende, sodass vieles nicht mehr aufgeklärt werden könne, so beispielsweise auch nicht die IM-Tätigkeit von Gysi, Stolpe und vielen anderen. „Zehn Jahre nach der Aktenvernichtungsaktion unter dem Bürgerrechtler (und letzten DDR-„Abrüstungsminister“) Rainer Eppelmann vermerkt der letzte HVA-Chef Großmann: ´Vorwürfe vom späteren Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, und einigen Bürgerrechtlern, dass wir sie getäuscht und über den Tisch gezogen hätten, sind so unberechtigt nicht.´“ (S. 315)

Die alten Genossen hätten große Teile des Vermögens der SED zur Partei Die Linke hinübergerettet, bastelten unbeeindruckt schon wieder am toten Körper des Realsozialismus, den sie neuerlich zur Zukunftsvision etikettieren. Sie sitzen inzwischen unbehelligt in Landtagen, in Landesregierungen, im Bundestag und absehbar auch in der Bundesregierung.

Der Autor klagt die Geschichtsvergessenheit der Deutschen an: „Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust haben die Deutschen ein seltsames Geschichtsverständnis. Einerseits gibt es eine durchaus verständliche Verengung auf den Holocaust, andererseits aber bleibt die zweite deutsche Diktatur randständig. […] Solange aber der Holocaust von einem gewissen Teil der Bevölkerung in seiner Singularität immer wieder geleugnet oder zum Vogelschiss erklärt wird, gerät auch die Aufarbeitung des DDR-Unrechts ins Hintertreffen, obwohl es zahlreiche Gemeinsamkeiten der beiden deutschen Diktaturen gab. Darunter leiden bis heute die Opfer der DDR-Diktatur.“ (S. 311)

Immer wieder beklagt der Autor die mangelnde Aufarbeitung der DDR-Diktatur und die Tatsache, dass die Täter ungeschoren davongekommen sind, dass sie wieder aus den Löchern hervorkriechen und sich anschicken, den gescheiterten Realsozialismus als Zukunft zu verkaufen. Man möchte an Sophie Scholl erinnern, die in einem Flugblatt schrieb: „Vergeßt auch nicht die kleinen Schurken dieses Systems, merkt Euch die Namen, auf dass keiner entkomme! Es soll ihnen nicht gelingen, in letzter Minute noch nach diesen Scheußlichkeiten  die Fahne zu wechseln und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre!“ (S. 309)

Ach, ich könnte das ganze Buch exzerpieren! Meine Gedanken können nicht Schritt halten mit dem von Wolfgang Welsch in gewissenhafter Kleinarbeit und Quellenforschung Niedergeschriebenen. Dieses Buch ist ein nicht zu überhörender Aufruf wider das Vergessen. Erinnerung ist ein eminent wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Ohne Erinnerung sind wir eigentlich schon tot oder doch zumindest innerlich hohl. Wolfgang Welschs Buch gehört in den Geschichtsunterricht, in die Bücherregale von Geschichtslehrern, Historikern und in das Gedächtnis von Politikern, damit sie das Material der Aufarbeitung eines menschenverachtenden Systems den ihnen anvertrauten Menschen vermitteln.

 

Wolfgang Welsch:
Widerstand. Eine Abrechnung mit der SED-Diktatur
Lukas Verlag 2021, 379 S., 30,- €