Wir erinnern uns:

Naziregime 1933-1945
DDR-Regime 1949-1989

 

Hauptredner: Dr. Wolfgang Welsch
Gottesdienstleitung: Baruch Kogan
Liturgie: Kantor Jochanan Busch
Cello: Johannes König

 

9. November 2017

Gemeinsame Gedenkfeier in Karlsfeld/Obb.

Anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 und dem Gedenken an den 9. November 1989 gab es auf Initiative der jüdischen Gemeinde Karlsfeld einen Gedenkgottesdienst. Umrahmt vom Cellisten Johannes König, sprachen der Bürgermeister und Dr. Welsch zum Gedenken. Ein erster Höhepunkt des Gottesdienstes war das Gebet (Kaddisch) des Kantors Jochanan Busch, Berlin, zu Ehren der Opfer des Holocausts und der Opfer des Unrechtsregimes der DDR.

Rabbi Kogan, der eingangs den berühmten Satz von Baal Schem Tow „Vergessen ist Verbannung – Erinnern ist Erlösung“ zitierte, unterstrich in seiner Ansprache die Bedeutung des Gedenkens der Opfer des Naziregimes und der des Unrechtsregimes der DDR gleichermaßen.

 

  

Hier finden Sie Auszüge aus meiner Rede

Wie Sie sicherlich alle wissen, ist der 9. November in der deutschen Geschichte ein recht seltsames Datum, weil sich in ihm verschiedene Ereignisse, verschiedene Epochen und damit Ideengeschichten verbinden.

Am 9. November 1918 endete das deutsche Kaiserreich mit dem erzwungenen Rücktritt des Kaisers Wilhelm II. und der Errichtung gleich zweier Republiken: es wurde eine parlamentarische Demokratie von Philipp Scheidemann ausgerufen und zwei Stunden später eine Räterepublik von Karl Liebknecht. Nach harten und langen Auseinandersetzungen nach der Novemberrevolution siegte das Modell der parlamentarischen Demokratie, aber ohne den sozialistischen Rätegedanken wirklich eliminiert zu haben, und mündete in die Weimarer Republik.

Genau fünf Jahre später hatte diese Republik mit ihrer liberalen Verfassung, die, wie Heribert Prantl einst in der SZ schrieb, „weiter war als die Menschen“, schon so viele Feinde, dass Adolf Hitler in München nach dem Vorbild Mussolinis ein Jahr vorher, am 8. und 9. November wiederum eine Revolution wagte, nämlich den Sturz der Berliner Regierung durch einen Putsch in München: dem Marsch auf die Feldherrnhalle sollte der Marsch nach Berlin folgen. Der Putsch scheiterte, hinterließ aber in der „Hauptstadt der Bewegung“ tiefe Spuren, die man heute noch auf dem Königsplatz besichtigen kann. Einige Jahre später, nach seiner angesichts des Hochverrats mehr als milden Strafe in Landsberger Haft, tauchte Hitler wieder auf, diesmal mit einer neuen Strategie: er wollte die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln schlagen, er schwor den Legalitätseid, was ihm letztendlich 1933 auch gelungen ist. Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und das Versagen der interessegeleiteten Parteien trugen erheblich dazu bei. Erst schleichend und dann ganz offen machte sich antidemokratisches und antisemitisches Denken und Handeln breit.

Widerstand gab es wenig; das Parlament, der Reichstag entmachtete sich selbst, Grundrechte wurden abgeschafft, der gesellschaftliche und politische Pluralismus wurden ausgeschaltet, gegen Juden wurde gehetzt, ihre Geschäfte boykottiert, die Reichswehr wurde einverleibt und anderthalb Jahre später war die Gleichschaltung vollendet. Aus einer liberalen und pluralistischen Demokratie mit einer nach dem Krieg aufstrebenden Kunst- und Kulturszene wurde eine Führerdiktatur. Schon 1933 kam es zu einem Exodus kritischer, d.h. demokratischer und vieler jüdischer Künstler, die voraussahen und messerscharf erkannten, was die Zukunft bringen würde.

Aber Widerstand? Hat man nicht bei all dem zugeschaut, was sich öffentlich auf Straßen und Plätzen, in Reden und Plakaten gegen die jüdische Bevölkerung abspielte? Aus einem latenten Antisemitismus wurde ein offener; man schaute weg, nicht hin. Nachbarn verschwanden, es gab Gerüchte, aber Genaues wollte man gar nicht wissen. Die Nürnberger Rassegesetze legalisierten die vorhandenen Vorurteile und die antisemitischen Verhaltensweisen. Widerstand jedoch gab es nur vereinzelt.

Als am 9. November 1938 die Synagogen brannten und sich der „Volkszorn“ Luft verschaffte, war es zu spät. Die Judenhatz wurde offizielle Politik: Judenhäuser, Judenstern, Deportationen und schließlich die Ausrottung des europäischen Judentums folgten. Nicht umsonst steht die Reichspogromnacht in der Tradition der sog. Novemberverbrecher und des Hitler-Putsches. Man war sich der Symbolik dieses Datums vollkommen bewusst, als vom Hotel Vierjahreszeiten aus das Fanal zum Pogrom gegeben wurde. Hat es am nächsten Tag Proteste gegeben? Mahnwachen vor zerstörten Synagogen? Protestnoten der Kirchen? Oder vielleicht sogar öffentlichen Widerstand? Wiederum nur höchst vereinzelt. Die Rechtfertigung: Man könne gegen die Nazis und gegen die Gestapo allein nichts ausrichten. Sehr lange hat es gedauert, bis der Widerstand der Studentengruppe der „Die Weißen Rose“ erkannt und gewürdigt wurde. Gott sei Dank gelten sie heute als Vorbilder mit ihrem humanistischen und europäischen Denken. Aber trotzdem: Zuschauer, Ignoranten, Mitläufer, Opportunisten, Karrieristen, Mittäter und Täter hatten es schon immer leichter. Wir sollten uns genau daran erinnern, dass die Täter – diejenigen also, die die antisemitische Gewalt verübten, – keine randständigen Personen waren, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kamen. Sie konnten sich bei ihrem Tun darauf verlassen, auf keine Gegenwehr zu stoßen und vielmehr mit der schweigenden oder offenen Komplizenschaft ihrer Mitbürger rechnen.

Die Reichspogromnacht am 9. November leitete die Massendeportationen und schließlich die Massenvernichtung des jüdischen Volkes ein. Sechs Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer. Dies ist ein singulärer Vorgang in der Weltgeschichte, ein nie mehr gutzumachender Zivilisationsbruch. Die Erinnerung daran, das Gedenken an die in deutschem Namen millionenfach Ermordeten gehören zum deutschen Selbstverständnis, sind quasi deutsche Staaträson.

War es Zufall oder war es Schicksal, dass es just an einem 9. November zum Mauerfall, d.h. auch zum Zusammenbruch der zweiten deutschen Diktatur kam? Es war wohl eher Zufall – und trotzdem gibt es eine Verbindung, nämlich die zweier Unrechtssysteme.

……

Heute haben wir eine relativ gefestigte Demokratie, mit der weitgehenden Absage an extreme und radikale Parteien. Jedoch – und das zeigt auch das Ergebnis der letzten Bundestagswahl – ist die Sicherheit trügerisch. Niemand, außer wir selbst, kann uns vor einem Abgleiten über den Populismus in den Autoritarismus schützen. Es darf Schande genannt werden, wenn es in Deutschland wieder Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und politischen Extremismus gibt, der sich nunmehr nicht nur auf den Straßen, sondern vor allem in den sozialen Netzwerken manifestiert, teilweise völlig offen, teilweise aber auch anonym. Die Herausforderungen im Kampf für die Demokratie sind die gleichen wie in der Weimarer Republik oder in der Bundesrepublik – die Mittel müssen heute jedoch variabler sein. Widerstand muss auch heute geleistet werden, nämlich, wie im Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes niedergeschrieben, „gegen alle, die die demokratische Grundordnung abschaffen wollen“. Aber wie leistet man heute Widerstand gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus? Widerstand fängt bei sich selbst an, es bedarf nicht der großen Aktion, sondern erst muss ein entsprechendes Bewusstsein vorhanden sein oder geschaffen werden.

Wir gedenken heute den unter den Nazis ermordeten Juden. Denken wir an die Toten dieses Tages, der der Auftakt war zu einem gnadenlosen Massenmord. Unsere Solidarität aber benötigen die heute lebenden Juden. Antisemitismus ist daher zu bekämpfen, egal ob er sich neonazistisch, islamistisch oder links-antiimperialistisch begründet. Es gilt dagegen zu halten, zu argumentieren, Fakten zu benennen, Werthaltungen zu formulieren – und nicht abzunicken, zu schweigen, zu akzeptieren. Eine kritische Haltung sollte in eigenes Handeln übergehen.